Neid und soziale Ordnung by Eva Lieberich

Neid und soziale Ordnung by Eva Lieberich

Autor:Eva Lieberich
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: De Gruyter
veröffentlicht: 2023-07-21T06:17:16.496000+00:00


6.3.1.1 Neid, Verzicht und Identifikation

In seinem 1921 erschienen Essay Massenpsychologie und Ich-Analyse skizziert Sigmund Freud eine auf den ersten Blick verblüffend ähnliche Dynamik von Neid/ Eifersucht,57 um den Zusammenhalt in modernen Massen zu erklären. Ausgehend von der Geschwisterrivalität beschreibt er im bereits zitierten Kapitel ‚Herdentrieb‘, wie sich erst im Zuge der Bewältigung von Neid/Eifersucht soziale Gefühle und gemeinschaftliche Strukturen ausbilden. In Freuds Deutung tauscht das ältere Geschwisterkind seine neidische Aggression gegenüber dem hinzugekommenen jüngeren Kind gegen das Gefühl der Identifikation ein, da es erkennt, dass es die elterliche Liebe nie allein besitzen kann und sich im Kampf gegen den Rivalen selbst Schaden zufügt. Die Identifikation mit dem Anderen erfolgt jedoch auf Basis der Forderung nach Gleichheit und Gerechtigkeit. In Freuds Worten: „Wenn man schon selbst nicht der Bevorzugte sein kann, dann soll doch wenigstens keiner von allen bevorzugt werden.“58

Dieser frühkindlich eingeübte Umgang mit Neid setzt sich nach Freud in der Schule fort, er ist paradigmatisch für das Verhältnis der Mitglieder in Armee und Kirche. Einprägsamstes Beispiel für die skizzierte Dynamik von Neid, gemeinsamen Verzicht und Identifikation ist bei Freud der moderne Starkult, verkörpert in der „Schar von schwärmerisch verliebten Frauen und Mädchen, die den Sänger oder Pianisten nach seiner Produktion umdrängen.“59 Jede der Schwärmerinnen tauscht den Besitz des Liebesobjekts gegen die Befriedigung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ein, die sich über die gemeinsame Verehrung des Stars definiert:60 Gemeinschaft ergibt sich hier aus der gleichen Ausrichtung des Begehrens wie aus dem Verzicht auf den alleinigen Besitz.

Eben jene Verbindung von gemeinsamem Begehren und gemeinsamem Nichtverfügen entfaltet ihre gruppenbildende Wirkung auch in Marjodôs Freundschaft zu Tristan. Während für Freud die Gemeinschaft aber erst im Zuge der Neidbewältigung entsteht und aus dem gemeinsamen Verzicht hervorgeht, stellt der beiden versagte Besitz für Marjodô die Bedingung von Gemeinschaft dar. Diese wird durch den Besitz des Anderen aufgebrochen und zerstört. Damit unterscheiden sich der mittelalterliche Text und Freuds von psychoanalytischen Prämissen ausgehende Theorie nicht nur in der Reihenfolge von Neid und Gemeinschaft, dem Nichtbesitz des Liebesobjekts kommt auch eine andere Bedeutung zu. Bei Freud ist er Verwirklichung einer ursprünglich aus dem Neid hervorgegangenen Forderung nach sozialer Gerechtigkeit: „Was man dann später in der Gesellschaft als Gemeingeist, ‚esprit de corps‘ u.s.w. wirksam findet, verleugnet nicht seine Abkunft vom ursprünglichen Neid. […] Soziale Gerechtigkeit will bedeuten, daß man sich selbst vieles versagt, damit auch die anderen darauf verzichten müssen oder, was dasselbe ist, es nicht fordern können.“61 Den Begriff der ‚sozialen Gerechtigkeit‘ auf eine mit den Konzepten Status und Rang operierende Literatur zu übertragen wäre – wie im Kapitel zum ‚Gruppenneid‘ gezeigt wurde – ahistorisch. Wenn der von Marjodô angenommene Nichtbesitz über seine eherechtliche Notwendigkeit hinaus weitere Bedeutungsdimensionen hat, dann sind diese im historischen Umfeld anders konturiert.

Freuds Neidtheorie wurde hier jedoch nicht eingebracht, um Differenzen zwischen modernen und mittelalterlichen Formen von Gemeinschaft zu diskutieren, sondern um im Vergleich mit einer ähnlich funktionierenden Neiddynamik zu präzisieren, worin das Spezifische der Freundschafts- und Neidstrukturen im Tristan besteht. Hierbei hilft insbesondere der erste Teil von Freuds Argument. Für Freud ergibt sich die Gemeinschaft



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